10 Denken ohne Geländer (Omlin 2020)


Wir leiteten eine Klasse zu dritt. Jede*r machte einen eignen Teil mit jeweils einer Gruppe. Danach sollten die Gruppen den anderen ihre Erkenntnisse präsentieren. Ich selbst legte die Aufgaben für meine Gruppe so an, dass sie nur über kritisches Reflektieren lösbar waren. Die Gruppe diskutierte und stritt.

Dies war intendiert, weil ich das «Denken ohne Geländer» fördern mochte und möchte. Ein paar Momente der Sinnsuche und Ungewissheit muss es geben, in denen man sich nur auf das Argumentieren, Denken und den Text verlassen kann; und so beschloss ich, der Gruppe nur anekdotisch oder fragend, wenn ich denn überhaupt initiativ einschritt oder darum gebeten wurde, den Weg zu weisen und nichts Konkretes zu verraten. Nach einer Weile merkte ich jedoch, dass die Rollen in der Gruppe schon im Vornherein gänzlich geklärt waren, was mitunter einen bunten Strauss der Fleurs Du Mal sozialpsychologischer Phänomene zeitigte. Der eine war als Trittbrettfahrer unterwegs, der andere als Scherzkeks, welcher aber als philosophisch talentbefreit galt und sich selbst auch so verstand, nochmal einer machte als Philosophiehirn von sich reden, welches total gescheit sei und alles für die Gruppe lösen könnte, und eine, die für die Fragen des Fleisses zuständig war. Sie habe ja so eine schöne Schrift und hätte auch bestimmt alles gelesen und wäre ja dann also auch die Schnellste, wenn es darum ginge, die belegenden Textstellen zu finden.

Was darüber hinaus passierte, war, dass bei jeder Uneinigkeit das Philosophiehirn entschied. Schliesslich war sich die Mehrheit einig, dass, was es meinte, stimmen müsste. In diesem Falle jedoch hatte der gruppen-demokratische Souverän weit gefehlt, indes das Tandem aus dem vermeintlich talentfreien Scherzkeks und der fleissigen Kalligraphin bei den zwei grossen Diskussionspunkten, die sich ergaben, richtig lagen und wohl des Rätsels Lösung aber keine Beachtung fanden.

Stattdessen fühlte die Gruppe sich dazu angehalten permanent herauszufinden, warum der bunte Strauss an Behauptungen, der dem Philosophiehirn, welches vielleicht viel Hirn, indes aber wenig philosophische Reflektion aufbot, wahr war. Um der philosophischen Odyssee, die sich da zeitigte, etwas Gegensteuer zu geben, streute ich Zweifel an der dominanten Position, indem ich punktuell kritisch nachfragte und vorschlug, Überlegungen und Argumente der eben Unterlegenen wieder ins Spiel zu bringen. Gegen die Gezeiten der Gruppendynamik gab es kaum ein Ankommen und die Zeit rann uns davon.

Als es an die Präsentation gegangen wäre, war das Philosophiehirn nicht wirklich willens zu vertreten, wogegen es sich bis vor Kurzem noch ausgesprochen hatte, derweil die anderen entweder zu scheu und unsicher waren die Erkenntnisse zu präsentieren oder sowieso nichts beizutragen gedachten. Das Ganze endete im Chaos zwischen Stuhl und Bank, Tür und Angel; ziemlich unkoordiniert stand die Gruppe da und naja, «präsentierte» wild durcheinander.

Hier waren die Rollenzumutungen einerseits, die Gruppendynamiken andererseits ein Problem. Konsequent wurde Dissens unterbunden, dem Mädchen kein Gehör geschenkt und versucht dem Dominanten zu gefallen. Der soziale Status samt den Gruppendynamiken hat hier eine produktive Auseinandersetzung und Gruppenleistung verhindert. Dazu kam der Ringelmanneffekt in allen drei Spielarten zum Zug.

Über eine stärkere Moderation und eine handfestere Hilfestellung hätte ich diese Fauxpas wohl verhindern können. Dies (v.a. mehr Hilfestellung) hätte allerdings eine Preisgabe des philosophischen Ungewissheitsmoments riskiert, welches stets die Möglichkeit des Scheiterns mitbringt.

Das «Denken ohne Geländer» kann eine befreiende Erfahrung sein, indessen wären gerade die leistungsschwächeren mit einer Gehhilfe wohl besser gerüstet gewesen, dem Dominanten den Rang abzulaufen.

Pascal Omlin, Luzern