6a Vom Kommunismus zum Kapitalismus (Russland)


Ein Moment aus Makhachkala – Russland
Autor: Idris Musaev, Geschichtelehrer
Mitbegründer und Leiter der Privatschule “Gulliver”

Meine Geschichte passierte in der zweiten Hälfte der 90er Jahre in einer kleinen Privatschule einer südlichen Stadt Russlands. Das war eine stürmische Zeit, in der sich der Kapitalismus in Russland rasant entwickelte. Es war schwierig für das Land, das vorher in einem bescheidenden sozialistischen Alltag lebte, sich an ein Leben mit neuen Verhältnissen anzupassen, wo es plötzlich viele sehr reiche Menschen gab. In der Tat sind Geschäftsleute mit riesigen Vermögen überraschend wie Pilze aus dem Boden geschossen. Während der Kapitalismus in Russland wiederkehrte, lernte die Gesellschaft langsam anders zu leben. Dabei behandelte man die neuen Reichen mit großem Respekt, obwohl jeder verstand, dass man damals ein Vermögen nur dank krimineller Verbindungen schaffen konnte. Die neuen reichen Geschäftsleute bemühten sich, besonders gute Bedingungen für ihre Kinder zu garantieren:  Sicherheit, Komfort und gute Bildung. Deswegen wurde eine Menge an Privatschulen in Russland in den 90-er Jahren gegründet. Die Geschichte, die ich gerade erzählen möchte, passierte in einer solchen Schule. An diese Geschichte würde man sich vielleicht gar nicht erinnern. Aber nachdem ich in der Schule zwei Jahrzehnte arbeitete, denke ich, dass das Schulleben der Kinder das Leben der Erwachsenen widerspiegelt. Jedoch ist das Schulleben, dank Emotionen, Gefühlen und Sorgen der Kinder, interessanter und man kann oft dabei eine Lehre ziehen. An dieser Stelle muss ich noch hinzufügen, dass ich damals der Leiter dieser Privatschule war und ins Zentrum des Geschehens geriet.

Gadzhi war damals in der siebten Klasse, er war 14 Jahre alt. Er war groβ für sein Alter und hatte ein gepflegtes Äußeres. Ich erinnere mich sehr gut an seinen „Augenblick“, tief und ausdrucksvoll, ähnlich wie bei seiner Mutter, die eine sehr intelligente und kluge Frau war. Gadzhi war lustig und charmant, das machte ihn beliebt, besonders bei den Mädchen aus seiner Klasse. In der gleichen Klasse mit ihm war Diana, ein kleines, süßes Mädchen. Sie war 13-14 Jahre alt, sehr fleißig und offen. Gadzhi war immer im Zentrum der Aufmerksamkeit, er hatte immer eine Geschichte oder einen Witz zu erzählen, wenn die Schüler in den Pausen zwischen dem Unterricht sich gesammelt und Spaß gehabt haben, wie es in jeder Schule üblich ist.

In einer solchen Pause lief eine aufgeregte Lehrerin zu mir ins Büro, um mir mitzuteilen, dass Gadzhi gerade Diana eine Ohrfeige gegeben hat. Ich war schockiert von dieser Nachricht und konnte mir nicht vorstellen, dass Gadzhi so was tun würde. Ich lud Gadzhi sofort zu mir ins Büro ein. Während des Gesprächs mit Gadzhi erfuhr man, dass ein Witz von ihm Diana nicht gefallen hatte. Sie hatte ein Glass Wasser bei sich, das sie ihm gleich ins Gesicht schüttete. Darauf reagierte er dann mit der Ohrfeige. Als Gadzhi in meinem Büro saβ, war es ihm unangenehm. Er entschuldigte sich und versprach, dass das nie wieder passieren würde. Als unser Gespräch zu Ende ging, erschien Dianas Vater unerwartet in meinem Büro. Man sollte vielleicht erwähnen, dass Dianas Vater ein zwei Meter großer bekannter Sportler war, der öfter an Judo Meisterschaften teilnahm. Bei unseren früheren Begegnungen in der Schule war er immer sehr ruhig und sprach nicht viel. Mit einem Schritt, ohne etwas zu sagen und ohne Gefühle, stand er plötzlich vor Gadzhi und gab ihm eine Ohrfeige. So eine Tat von einem sehr ruhigen und immer freundlichen Vater überraschten und erschütterten Gadzhi und mich sehr. Ich musste diesen leidenschaftlichen Vater von Gadzhi wegziehen und versuchte ihn zu überzeugen, sich hinzusetzen und sich zu beruhigen. In diesem Moment war Gadzhi sofort weg aus dem Büro. Ich musste mein Erziehungsgespräch, dieses Mal mit Dianas Vater, fortsetzen. Zum Glück beruhigte er sich schnell, er entschuldigte sich und versuchte die Situation mit Stress zu erklären. Wir einigten uns später, dass wir uns in kurzer Zeit wieder treffen müssten, um den Fall ganz zu schließen.

Der Vater war dann weg. Ich musste kurz durchatmen, weil ich immer noch von allem, was gerade geschah, schockiert war. Da stand schon eine Lehrerin mit der weinenden Diana vor meiner Tür. Sie würde gerne die Geschichte aus ihrer Sicht erzählen. Sie erzählte mir, dass das alles ein Unfall und ein Missverständnis gewesen sei. Sie verschüttete das Wasser durch Zufall und Gadzhi verstand das falsch und gab ihr sofort eine Ohrfeige. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich sogar ein bisschen schuldig gefühlt hatte. Ich versuchte sie zu beruhigen und wir entschieden uns, später ein Klassengespräch zu führen, um diesen Konflikt hinter uns zu lassen. Ich dachte zu diesem Zeitpunkt, dass das Schlimmste vorbei ist. Das schätzte ich aber falsch ein.

Gadzhis Onkel war ein sehr einflussreicher Geschäftsmann. Als er davon erfuhr, was in der Schule geschehen ist, besprach er die Situation mit ein paar Verwandten. Sie kamen schnell zum Schluss, dass er die Ehre der ganzen Familie verletzt hatte, als Dianas Vater Gadzhi ‚geschlagen’ hatte. Man müsste die Ehre sofort verteidigen und ein starkes Zeichen für die Anderen setzen. Dabei wurden ziemlich kriminelle Szenarien besprochen, wie man das am besten erreicht. Als Dianas Vater von diesem Gespräch und den Szenarien erfuhr, traf er sich mit seiner Gruppe enger Sportlerfreunde. Sie verlangten dann von Gadzhis Eltern eine öffentliche Entschuldigung und bedrohten Gadzhis Onkel. Also eine Konfliktsituation in der Schule, die komplett aus dem Ruder lief, wurde sehr emotional und konnte sich jeder Zeit zu etwas Schlimmem entwickeln, eventuell mit blutigen Folgen.

Ich fühlte mich sehr besorgt wegen der ganzen Sache. Das alles hatte auch Folgen für den Alltag in der Schule. Die Kinder und die Lehrer wussten vom Konflikt. Ich lud die beiden, Gadzhi und Diana, wieder zu mir ins Büro ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte Gadzhi sich mehrmals bei ihr entschuldigt und sie dachte über den Vorfall auch nicht mehr nach. Wir besprachen die Situation noch Mal, inklusive ihrer letzten Entwicklung. Ich wies beide darauf hin, dass sie die einzigen waren, die den Konflikt beenden könnten. Die Situation könnte schlimme Konsequenzen haben, und man sollte deswegen nicht still bleiben. Man sollte Mut finden und den Eltern und Verwandten zu Hause klar machen, dass die direkt Beteiligten das Schlechte vergessen haben und neu anfangen möchten, dass der Streit sich erledigt habe und sie auch in Zukunft in der gleichen Klasse lernen möchten und selbst fähig sind, die Probleme zu lösen. Wir waren mit Diana und Gadzhi einig, dass dieser Weg der richtige wäre. Die beiden waren davon überzeugt, dass sie darauf bestehen müssen, diese bizarre Sittenfeindschaft zu beenden. Diana hatte es besonders schwierig, weil ihre Eltern verlangten, dass sie sofort die Schule wechseln und keinen Kontakt zu Gadzhi mehr haben dürfe. Sie bewies aber auch einen starken Charakter.
Ein Schulleben ist immer reich an Überraschungen. In dieser Geschichte wurden die Kinder die vernünftigen Erzieher ihrer Eltern, und die Eltern haben von den Kindern gelernt. Das Wichtigste ist aber, dass jeder in dieser Geschichte am Ende das Gefühl hatte, eine gute Leistung erbracht zu haben.